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Unsere Väter wurden von Neonazis ermordet

Semiya war gerade vierzehn und Gamze zwanzig, als ihre Väter von der rechtsextremen Terrorzelle NSU ermordet wurden. Ihr Buch ist nicht nur eine bewegende Erinnerung an ihre Väter, sondern auch eine kraftvolle Botschaft an uns alle: Aus Schmerz kann Stärke erwachsen. Gemeinsam schlagen sie eine Brücke aus der Vergangenheit in die Gegenwart, laden junge Leser:innen ein, sich mit den Themen Rassismus und Extremismus auseinanderzusetzen und den Dialog über eine bessere Zukunft zu führen.

Interview mit Gamze Kubaşik und  Semiya Şimşek
semiya_und_gamze

Ihr hattet den Wunsch ein Jugendbuch über eure Geschichte zu schreiben, warum?

Semiya: Ja, das war schon lange unser gemeinsamer Wunsch. Mir war speziell ein  Jugendbuch wichtig, weil der Mord an meinem Vater passiert ist, als ich selbst Jugendliche war. Ich musste damals lernen, mit dieser Situation umzugehen. Ich musste auf einmal sehr viel Verantwortung übernehmen und konnte keine Jugendliche mehr sein.   

Gamze: Gerade die junge Generation muss verstehen, was passiert ist, und was das mit uns gemacht hat. Mit dem Buch wollen wir zeigen, wie wir als Töchter mit dem Schmerz, aber auch mit dem Mut weitergelebt haben. Es geht uns auch darum, ein Zeichen zu setzen gegen Rassismus und für Zusammenhalt.

 

Gamze mit ihren Brüdern und ihrem Vater

Ist das alles so passiert?

Gamze: Ja, die Ereignisse, von denen wir erzählen, sind wirklich passiert. Wir haben die Szenen aus Erinnerungen rekonstruiert, haben sie aus dem Gedächtnis nachempfunden. Wir haben manches verdichtet, damit die Leserinnen und Leser besser verstehen können, was wir erlebt haben. Es sind keine erfundenen Geschichten.

Semiya: Das Buch erzählt unsere Geschichte, unsere Gefühle. Zu manchen Ereignissen gibt es ja auch Fotos oder zusätzliches Material. Wir haben uns natürlich darauf konzentriert, was aus unserer Perspektive wichtig ist und mussten einiges straffen und zusammenziehen, es ist ja eine lange Zeitspanne von der wir erzählen.  

Semiyas Familie

Was wollt ihr mit dem Buch erreichen? 

Semiya: Wir wollen natürlich viele Jugendliche damit erreichen. Und wir wollen, dass die Namen der Opfer nicht vergessen werden, dass unsere Väter nicht vergessen werden. Mit einem Buch bleiben die Namen der Opfer lebendig, unsere Geschichte bleibt lebendig, das ist wichtig für uns. Und wir wollen auch, dass der NSU-Komplex nicht vergessen wird, der ja nicht vollständig aufgeklärt ist. Ich bin wirklich aufgeregt, weil das Buch jetzt da ist, und bin sehr gespannt auf die Reaktionen.  

Gamze: Es ist sehr bewegend, ich bin stolz und dankbar, dass wir das gemeinsam geschafft haben. Andererseits ist es traurig, weil der Grund für dieses Buch immer schmerzen wird. Deshalb wollen wir auch, dass Jugendliche über Rassismus nachdenken und darüber, was er mit Menschen macht. Wir wollen Mut machen, dass man nicht wegschaut, wenn Unrecht geschieht und hoffen, mit vielen jungen Menschen darüber ins Gespräch zu kommen. Und wir wollen mit unserer Geschichte zeigen: Aus Schmerz kann auch Stärke entstehen.

Buch-Mockup
Cover Unser Schmerz ist unsere Kraft

Blick ins Buch

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Ali Şirin, Semiya und Gamze beim 11. Tag der Solidarität 2023

Hattet ihr eine Vorstellung davon, wie das Buch sein soll?

Gamze: Wir wollten, dass es ehrlich ist, dass es die Ereignisse so erzählt, wie wir sie erlebt haben. Es sollte aber nicht nur traurig sein, sondern auch zeigen, dass man trotz allem Kraft finden kann. Und wichtig war uns, dass es gut verständlich ist, damit junge Leserinnen und Leser Zugang dazu haben.

Semiya: Unser Wunsch ist, dass wir damit viele Jugendliche erreichen. Und dass sie nachempfinden können, was uns passiert ist, dass sie auch unsere Gefühle verstehen. Für uns und unsere Familien, war nichts mehr wie zuvor.     

Gamze: Und wichtig war uns, dass unsere Perspektive als Töchter im Mittelpunkt steht. Oft wird über unsere Köpfe über unsere Väter gesprochen, über die Täter oder über die Ermittlungen, unsere Gefühle, Erinnerungen und Gedanken kamen dabei oft zu kurz. Das wollten wir ändern.

 

Semiya mit 6 Jahren mit ihrem Vater

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Christine?

Gamze: Ich hatte schon länger den Wunsch, mit Semiya ein Jugendbuch über unsere Geschichte zu schreiben. Wir fanden es wichtig, dass unsere beiden Perspektiven zusammenfinden. Als Christine mit genau dieser Idee auf uns zukam, war ich sehr glücklich. Nach dem ersten Gespräch war mir sofort klar: Sie ist die richtige. Sie hat uns zugehört, unsere Gefühle ernst genommen und gezeigt, dass sie sich schon intensiv mit dem Thema beschäftigt hat. Außerdem hat sie Erfahrung mit Jugendbüchern, das hat mich zu 100% überzeugt. Ich selber führe seit mehreren Jahren Schulgespräche und möchte, dass das Thema auch in den Unterricht kommt. Mit dem Buch erreichen wir das auf eine neue Art, und ich bin sehr dankbar, dass Christine uns auf diesem Weg begleitet hat.

Semiya: Ja, nach dem ersten Online-Treffen haben wir direkt losgelegt. Es hat super gut funktioniert, die Zusammenarbeit war sehr harmonisch, das war uns wichtig. Wir sind ja sehr offen im Buch und erzählen offen von unseren Gefühle. Das wollten wir auch so, dafür braucht man aber eine gute Basis, das muss stimmen, man muss sich sicher fühlen. 

 

Gamze mit ungefähr 5 Jahren mit ihrem Vater

Wie habt ihr konkret zusammengearbeitet?

Gamze: Wir haben viele Gespräche geführt, oft stundenlang. Christine hat Fragen gestellt, wir haben erzählt. Sie hat dann erste Texte geschrieben, und wir haben gemeinsam daran gearbeitet, ergänzt, korrigiert und gesagt: Das fühlt sich richtig an. Oder: Hier stimmt es noch nicht ganz. Es war ein Miteinander, mit viel Vertrauen.

Semiya: Christine hat oft nachgefragt: Über was habt ihr da gesprochen? Wie seid ihr da miteinander umgegangen? Wie hat sich eine bestimmte Situation für euch angefühlt? Es war manchmal auch schwer. Denn es ist nicht einfach, immer wieder in die eigene Geschichte zu gehen und sie dann auch noch zu lesen. Es gibt Szenen, die kann ich nicht gut lesen, ich ertrage sie kaum, die gehen mir zu nahe. Man ist dann sofort wieder in der Situation von damals drin und in den Gefühlen. Christine hat das mitgefühlt – und über die Arbeit sind wir zu Freundinnen geworden. Das ist schön. 

 

Wild Song
Candy GourlayAlexandra Rak

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Gebundene Ausgabe19,90 *
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